Grün leuchten die sanften Hügel Irlands im morgendlichen Licht, der Wind trägt den Duft von feuchter Erde und Salz vom nahen Atlantik herüber. Ein Land, das von Mythen durchdrungen ist, von Geschichten über Feenhügel, Kriegerkönige und geheimnisvolle Rituale, birgt auch in seiner Küche ein Erbe, das weit zurückreicht. Wer heute in einem irischen Cottage frisches Soda Bread genießt, einen Schluck torfigen Whiskey kostet oder sich dampfendes Irish Stew auf der Zunge zergehen lässt, ahnt kaum, dass diese einfachen Speisen und Getränke eine jahrtausendealte Geschichte erzählen. Denn die irische Küche ist nicht nur Nahrung, sie ist Erinnerung an Überleben und Not, an Wohlstand und Festmahle, an das ewige Spiel von Natur und Mensch. In jeder Scheibe Brot, jedem Löffel Fischsuppe und jedem Tropfen Met klingt ein Echo aus der Steinzeit, dem Mittelalter und sogar der Großen Hungersnot mit. Epochen, die auf den irischen Esstischen bis heute lebendig sind.
Von der Steinzeit bis zur Food-Revolution des 21. Jahrhunderts erzählt die irische Küche eine Geschichte von Überleben, Kreativität und kultureller Vielfalt. Ein atmosphärischer Streifzug durch Jahrtausende irischer Esskultur.
Inhaltsverzeichnis
Irische Küche in der Steinzeit – Jäger, Sammler und die ersten Mahlzeiten
Lange bevor die ersten Klöster gegründet wurden oder normannische Küchenmeister an Burghöfen Braten auftischten, kochten Irlands ursprüngliche Bewohner ihr Mahl über offenem Feuer in der Wildnis. Die kulinarische Reise der Insel beginnt in der Zeit der Jäger und Sammler vor mehr als 30.000 Jahren. Die wenigen Zeugnisse dieser Ära – bearbeitete Knochen aus der Castlepook Cave in Cork oder der berühmte Rentierknochen aus der Alice and Gwendoline Cave in Clare mit seinen Schlachtspuren – sind der Beweis, dass Irland auch zu dieser Zeit bereits besiedelt war.
Anhand der Funde weiß man, dass die frühen irischen Jäger und Sammler von Wild, Fisch und Vögeln sowie Beeren und Nüssen lebte. Entlang der Küste kamen außerdem noch Schalentiere auf den prähistorischen Teller. Konkret weiß man, dass man sich damals neben Reh- und Rentierfleisch von Muscheln, Lachs, Flusskrebse und allem, was Wald und Wiesen hergaben, ernährte.
Die Fulacht Fiadh: Irlands älteste Kochstelle
Eines der faszinierendsten Relikte dieser Urzeitküche ist die Fulacht Fiadh – eine Art prähistorischer „Outdoor-Kochtopf“, von denen in Irland über 4.500 entdeckt wurden. Diese Anlagen bestanden aus einer Grube im Boden, die mit Wasser gefüllt war. Durch das Hineinwerfen von glühenden Steinen erhitzte man das Wasser, sodass Fleisch oder Fisch darin garen konnten. Eine Art Steinzeit-Sous-Vide-Technik. Vermutlich kochte man hier Wild oder Rind und in einigen Fällen auch Meeresfrüchte und Schalentiere. Man nimmt an, dass einige dieser Fulachtaí Fiadh ausschließlich für Rituale verwendet wurden, da sie oft in unmittelbarer Nähe zu Steinkreisen und anderen megalithischen Bauten gefunden wurden. Einige Forscher glauben sogar, dass man die rätselhaften Kochgruben zur Bierherstellung oder zum Ledergerben genutzt hatte.
Irische Küche: Die neolithische Revolution
Etwa um 4.000 v. Chr. kamen neue Völker aus dem heutigen England, Frankreich und Spanien nach Irland – sesshafte Bauern mit Rindern, Schafen, Schweinen und Getreide. Die Landwirtschaft veränderte die Essgewohnheiten nachhaltig. In den Céide Fields in Mayo, Europas ältester bekannter Ackerlandschaft, wurde Weizen, Emmer und Gerste angebaut. Aus geröstetem Korn konnte man nun Fladenbrot backen und die Milchwirtschaft begann. Erstmals stellte man auf der Grünen Insel Käse und Butter her, was den Startschuss zur produzierenden Nahrungskultur gab, die bis heute besteht. Besonders bemerkenswert ist, dass diese frühen Bauern trotz des feuchten Klimas ausgeklügelte Entwässerungssysteme anlegten, um ihre Felder zu bestellen – ein Hinweis auf tiefes landwirtschaftliches Verständnis.
Irlands Esskultur: Die Küche der Kelten
Die Kelten, die ab etwa 600 v. Chr. in Irland lebten, waren ein landwirtschaftlich geprägtes Volk. Ihre Ernährung beruhte auf dem, was sie selbst anbauten, züchteten oder sammelten. Zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln gehörten Getreide wie Gerste, Hafer und Weizen, aus denen Brei, Fladenbrote und sogar Bier hergestellt wurden. Auch Hülsenfrüchte und Wildkräuter waren feste Bestandteile der täglichen Mahlzeiten. Milch und Milchprodukte wie Käse und Butter spielten ebenfalls eine bedeutende Rolle, da die Viehzucht, insbesondere von Rindern und Schafen, für die Kelten von großem wirtschaftlichem Wert war.
Fleisch wurde vermutlich nicht täglich verzehrt, sondern war besonderen Festtagen oder Gelagen vorbehalten. Schweine galten als Hauptquelle für Fleisch, da sie leicht zu halten waren, sich schnell vermehrten und im Gegensatz zu Rindern nicht als Statussymbole galten. Auch Wild und Fisch – vor allem Lachs und Aal aus den Flüssen – standen auf dem Speiseplan.
Die Zubereitung der Speisen erfolgte meist über offenem Feuer oder in Erdöfen. Töpfe aus Ton sowie Metallkessel dienten dem Kochen von Eintöpfen und Suppen, die man mit Kräutern versetzte und schmackhaft würzte. Salz war ein wichtiges Konservierungsmittel, ebenso wie das Trocknen und Räuchern von Fleisch und Fisch. Bei rituellen oder gesellschaftlichen Festen gab es große Gelage, bei denen die Speisen nicht nur der Ernährung, sondern auch der Darstellung von Wohlstand und Gastfreundschaft dienten. Insgesamt spiegelte die Esskultur der Kelten eine enge Verbindung zur Natur und den Jahreszeiten wider.
Die Rinder aus keltischer Zeit
Eine besondere Rolle in der Viehwirtschaft der Kelten spielten die sogenannten Kerry-Rinder. Diese alte, ursprünglich irische Rinderrasse war vor allem für ihre nahrhafte, fettreiche Milch geschätzt, aus der man Käse und Butter herstellte. Die Tiere waren klein, robust und genügsam, perfekt angepasst an das raue Klima und die kargen Böden Irlands. Neben der Milch lieferten die Kerry-Rinder auch Fleisch für festliche Anlässe. Da Rinder für die Kelten ein Symbol für Wohlstand und Macht waren, hatten sie auch eine wichtige Bedeutung in der keltischen Mythologie, wie man zum Beispiel an der bekannten Legende des Rinderraubs von Cooley sieht.
Von den heutigen Rindern in Irland unterscheiden sich die Kerry-Rinder deutlich. Moderne Rassen wie Holstein-Friesian sind deutlich größer und auf maximale Milch- oder Fleischleistung gezüchtet. Sie benötigen jedoch bessere Futterbedingungen und intensivere Pflege und sind weniger widerstandsfähig gegenüber schlechtem Wetter oder mageren Böden. Die Kerry-Rinder stehen hingegen für Ursprünglichkeit und Anpassungsfähigkeit und gelten heute als eine der ältesten Rinderrassen Europas.
Christentum und Klöster: Brot, Bier und Butter im frühen Mittelalter
Mit der Christianisierung ab dem 5. Jahrhundert veränderte sich auch die irische Küche maßgeblich. Klöster waren Zentren des Fortschritts: Hier wurde Weizen angebaut, Sauerteigbrot gebacken, Bier gebraut und Milchprodukte perfektioniert. Im Rahmen ihres spirituellen Lebens widmeten sich die Mönche dem Gartenanbau, der Bienenzucht und der Milchwirtschaft.
Die Klosterküche: Innovation im Schatten des Kreuzes
Mönche kultivierten Äpfel, Birnen, Beeren und Kräuter. Hinter den dicken Klostermauern wurden Vorgänge wie das Haltbarmachen von Nahrungsmitteln durch Räuchern und Fermentieren erprobt und perfektioniert. Die ansässigen Geistlichen behielten ihr Wissen nicht für sich, sondern teilten neue Methoden mit den Bauern der Region, was zu ergiebigeren Ernten führte.
In klösterlichen Küchen entstanden Frischkäse, Buttermilch, Sauermilch und einfache Käsesorten. Die kulinarischen Manuskripte dieser Zeit enthielten neben medizinischen Rezepten auch Anweisungen zur Bierherstellung, zur Lagerung von Butter und zum Brotbacken.
Bog Butter – das kulinarische Mysterium irischer Küche

Bazonka, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die sogenannte „Bog Butter“ ist ein faszinierendes Relikt aus der Vergangenheit Irlands und bietet einen besonderen Einblick in die Lagerungs- und Konservierungstechniken der Kelten und späterer Bewohner der Insel. Es handelt sich dabei um Butter oder tierisches Fett, das in Holz- oder Ledertonnen verpackt und in Mooren vergraben wurde. In diesen sauerstoffarmen, kühlen und sauren Böden blieb das Fett über Jahrhunderte erstaunlich gut erhalten. Archäologen haben bei Grabungen immer wieder Töpfe oder Tonnen mit Bog Butter entdeckt, von denen einige bis zu 3.000 Jahre alt sind.
Der Grund für diese ungewöhnliche Lagerung ist bis heute nicht völlig geklärt. Wahrscheinlich diente das Vergraben im Moor vor allem der Konservierung, da es vor Wärme, Licht und Schädlingen schützte und damit die Haltbarkeit der Butter stark verlängerte. In einer Zeit ohne Kühlmöglichkeiten war dies eine äußerst praktische Methode, um Vorräte für Notzeiten oder den Winter zu sichern. Manche Forscher vermuten auch, dass bestimmte Portionen von Butter im Moor versteckt wurden, um sie vor Diebstahl zu schützen oder sogar als rituelle Opfergaben für die Götter der Kelten dort hinterlassen wurden.
Honig und Bienenhaltung in Irland
Bienenhaltung war für die christlichen Gemeinschaften Irlands von unschätzbarem Wert. Die fleißigen Insekten lieferten nicht nur Honig als einziges Süßungsmittel für die klösterliche Küche – etwa für besondere Festmahle, für Milchspeisen oder als Stärkung für Kranke – sondern vor allem war ihr Wachs begehrt, um Kerzen zu fertigen. Talg galt im religiösen Gebrauch als unrein; Bienenwachs dagegen spendete „göttliches Licht“. Einige Klöster, wie die Old Mellifont Abbey in Louth – deren Name „Brunnen des Honigs“ bedeutet – zeugen noch heute von dieser engen Verbindung zwischen Mönchen und Bienen.
Doch die Geschichte der Bienen in Irland reicht noch viel weiter zurück. Bereits vor der Christianisierung waren Bienen von hoher Bedeutung: Die altirischen Brehon Laws, speziell im „Bechbretha“, regelten den Besitz, die Rechte und Pflichten der Imker. Bienenstöcke waren wertvoller Besitz, Honig diente als Handelsgut, Geschenk und – bei vornehmer Tafel – als unverzichtbare Zutat für Fleisch- und Fischgerichte. Sogar Streitigkeiten über ausreißende Bienenschwärme wurden gesetzlich geregelt.
In den Mythen der Kelten tauchte Honig als Speise der Götter und der Anderswelt auf und Met, der vergorene Honigwein, war das Festgetränk der Könige. Heilige wie Modomnóc und Gobnait wurden später zu Schutzpatronen der Bienen und Imker erklärt – ein Zeichen dafür, wie sehr sich heidnisches Erbe und christlicher Glaube in Irlands Bienenkultur vereinten.
So wurden die Bienen Irlands über die Jahrhunderte hinweg nicht nur wegen ihres süßen Goldes geschätzt – sondern als Quelle des Lichts, der Heilkraft und der Ordnung. Eine leise, summende Konstante im Wandel der Zeiten.
Von Wikingern und Normannen: Kulinarische Einflüsse aus aller Welt
Die Wikinger brachten ab dem 9. Jahrhundert nicht nur Angst, Schrecken und Plünderungen auf die Grüne Insel, sondern auch Waren von ihren fernen Handelsreisen. Mit ihnen kamen neue Produkte auf irische Märkte: getrockneter Fisch, importierter Honig, exotische Gewürze. Auch in der Viehzucht gab es durch den Kontakt mit den Wikingern Veränderungen. Sie förderten die Haltung von Schweinen und führten möglicherweise neue Rassen oder verbesserte Zuchtmethoden ein.
Auch einige Städte, wie zum Beispiel Waterford und Dublin, haben die Iren den Wikingern zu verdanken. Besonders die heutige Hauptstadt entwickelte sich rasch zu einem kulinarischen Umschlagplatz. Auf den neu etablierten Märkten wurden landwirtschaftliche Erzeugnisse getauscht oder verkauft – ein wichtiger Schritt in Richtung einer stärker handelbasierten Wirtschaft, die über die keltische Selbstversorgung hinausging. Die Wikingerzeit brachte somit einen ersten Wandel von der rein bäuerlichen zur städtischen Esskultur in Irland.
Die Normannen und die neue Esskultur
Die Normannen, die im 12. Jahrhundert folgten, untermauerten diesen Wandel. Denn mit ihnen kamen komplett neue Anbaumethoden, Nahrungsmittel und Rezepte nach Irland. Dazu gehörten allen voran das Weißbrot und raffinierte Gerichte mit Kräutern, Pasteten und Soßen. Besonders die Oberschicht in den Burgen und Herrensitzen des Landes hieß die neuen und teuren Standards der Esskultur willkommen. Das sorgte für eine klare Differenzierung zwischen „aristokratischer“ und bäuerlicher Ernährung.
Die Märkte in Städten wie Waterford, Limerick oder Cork florierten. Wöchentlich wurden Frischwaren angeboten: Fleisch, Fisch, Eier, Butter und Gemüse. Die Verfügbarkeit und Vielfalt der Waren hing jedoch stark vom Standort ab. Städtisches Leben brachte neue Möglichkeiten, aber auch Abhängigkeiten vom Handel mit sich.
Irische Küche vom Mittelalter in die Neuzeit
Im späten Mittelalter, etwa vom 14. Jahrhundert an, dominierten in Irland Getreideprodukte wie Hafer, Gerste und Weizen den Speiseplan – vor allem in Form von Breien, Fladenbroten und Grützen. Brot war eine Seltenheit für die arme Bevölkerung und galt eher als Luxusgut der wohlhabenden Inselbewohner. Für die einfachen Leute bildete Haferbrei (Porridge) das tägliche Grundnahrungsmittel, häufig verfeinert mit Milchprodukten wie Buttermilch oder Molke.
Milch war ohnehin ein Grundpfeiler der irischen Ernährung. Kühe wurden primär als Milchlieferanten gehalten, weniger als Fleischquelle. Frischmilch, Buttermilch, Käse und Butter waren in fast jedem Haushalt vorhanden – und von immenser Bedeutung für Ernährung und Handel. Butter diente sogar als Konservierungsmittel für Fleisch oder Fisch und war auch Teil des Exports.
Fisch, vor allem Lachs, Hering und Kabeljau, war nicht nur eine günstige Eiweißquelle, sondern hatte auch eine wichtige religiöse Bedeutung. Besonders während der Fastenzeiten im katholischen Kirchenjahr war der Verzehr von Fleisch untersagt, weshalb Fisch ein unverzichtbarer Bestandteil der Ernährung war. Die Klöster, insbesondere die Franziskaner, pflegten strenge Fastenregeln, bei denen Fisch und Meeresfrüchte eine zentrale Rolle spielten.
Fleisch – ob Rind, Lamm oder Schwein – war teuer und blieb der Oberschicht vorbehalten. Rindfleisch galt auch in dieser Zeit als Statussymbol, während Schweinefleisch, Speck und Blutwurst (Black Pudding) häufiger in den Speisekammern der einfachen Bevölkerung zu finden waren. Jagdbeute wie Wildgeflügel oder Reh war dem Adel vorbehalten. In den Landhäusern des Adels und wohlhabender Farmer gehörten opulente Fleischgerichte sowie importierter Wein und Branntwein zum guten Ton.
Gemüse und Obst waren im Vergleich zu heute begrenzt. Kohl, Zwiebeln, Lauch, Pastinaken und Rüben wuchsen in den Gärten der Bauern. Seltener waren exotische Früchte wie Äpfel oder Birnen, die vor allem in Klostergärten oder bei wohlhabenden Landbesitzern kultiviert wurden. Im 18. Jahrhundert kamen Versuche hinzu, fremde Pflanzen wie Melonen, Gurken oder sogar Ananas anzubauen – ein Zeichen des zunehmenden Einflusses von Handel und Kolonialwaren.
Die Kartoffel: Fluch und Segen eines Wurzelgemüses
Im 16. Jahrhundert erreichte ein unscheinbares Wurzelgemüse aus Südamerika die irische Küste: die Kartoffel. Anfangs skeptisch beäugt, wurde sie bald zum kulinarischen Wendepunkt der Inselgeschichte. Ihre Vorteile lagen auf der Hand: leicht anzubauen, nährstoffreich und widerstandsfähig gegen das irische Klima. Für die arme Landbevölkerung war sie ein Segen. Man aß sie mit Buttermilch, gelegentlich ergänzt durch Kohl oder Fisch.
Besonders im Westen Irlands wurde die Kartoffel zum Rückgrat der Ernährung. Auf kleinen Parzellen ernährte sie ganze Familien und war oft die einzige Nahrung. Studien belegen, dass ein erwachsener Mann, der täglich 5–6 kg Kartoffeln mit Milch verzehrte, ausreichend Kalorien, Eiweiß und Vitamin C erhielt, um gesund zu bleiben.
Die Große Hungersnot: Ernährungskollaps durch Monokultur
Im Laufe der Jahre wurde die Kartoffel immer mehr zur Monokultur – und damit zur Achillesferse der Bevölkerung. Als 1845 die Kartoffelfäule über die irischen Acker herfiel, brach die Ernährungssicherheit einer ganzen Nation zusammen. In den Folgejahren starben über eine Million Menschen, mindestens ebenso viele wanderten aus. Briefe, Tagebücher und Verwaltungsschriften aus dieser Zeit berichteten von entsetzlicher Not. Menschen, die Gras oder ihre Haustiere aßen und ganze Familien, die innerhalb weniger Wochen komplett ausstarben.
Die Große Hungersnot war allerdings nicht nur eine biologische, sondern eine politische Katastrophe. Die Reaktion der britischen Regierung war zögerlich bis inkompetent, Nahrungsmittel wurden weiterhin exportiert, während besonders im Westen der Insel Menschen verhungerten. Diese tiefe historische Wunde prägt Irlands kulinarisches Gedächtnis bis heute. Nach der Hungersnot verlor die Kartoffel ihre Vormachtstellung – Brot, Hafer, Milch und Kohl wurden wieder bedeutender.
Von der Not zur Vielfalt: Die irische Küche bis heute
Nach der Hungersnot gewann Hafer als Grundnahrungsmittel erneut an Bedeutung. Haferbrei, Haferfladen und Grütze bildeten wieder einen wesentlichen Bestandteil der täglichen Kost, begleitet von Milchprodukten wie Buttermilch und Butter – ein Rückgriff auf ältere kulinarische Traditionen vor der Kartoffeldominanz.
Dennoch war die Nahrung vieler Menschen weiterhin karg und einseitig. In ländlichen Regionen bestimmten neben Milch und Hafer auch Kohl und gelegentlich Schweinefleisch das Bild. Der Verzehr von Rindfleisch blieb aufgrund der Kosten weiterhin der wohlhabenden Bevölkerung vorbehalten. In den Städten begann sich dagegen eine andere Entwicklung abzuzeichnen. Märkten begannen erneut zu florieren, und boten ein stetig wachsendes Angebot aus Nahrungsmitteln aus aller Welt.
Die allmählich verbesserte Infrastruktur – neue Straßen, Eisenbahnverbindungen und Dampfschiffe – band Irland nicht nur an das europäische Handelsnetzwerk an, sondern verbesserte auch die Transportwege innerhalb des Landes. Der Handel mit konservierten und importierten Waren, wie gesalzenem Fisch, Zitronen, Rosinen oder exotischen Gewürzen, erreichte nun auch abgelegene Haushalte.
Doch trotz dieser Verbesserungen blieb für viele Landbewohner der Speisezettel bis weit ins 20. Jahrhundert bescheiden und stark von regionalen Eigenheiten geprägt.
Der Einfluss der Urbanisierung auf die irische Küche
In den Städten, insbesondere in Dublin, Cork und Limerick, entwickelten sich ab dem späten 19. Jahrhundert neue Esskulturen. Essenslieferdienste für wohlhabende Bürger begannen, ihre Dienste anzubieten. Der Koch und Gastronom Peter Mequignon etwa betrieb einen Catering-Service in Dublin, der fertige Gerichte für private Feste anbot – ein erster Vorläufer des heutigen Überflusses an Lieferdiensten und Take-away-Services.
Auch die irischen Pubs erweiterten mit der Zeit ihr Angebot, um auf die Nachfrage der Iren zu reagieren, die das „Außer-Haus-Essen“ immer mehr für sich entdeckten. Neben Guinness und Co. bot man zunächst einfache Hausmannskost wie Suppen oder traditionelle Stews an. Ein Angebot, das in den darauffolgenden Jahrzehnten kontinuierlich erweitert und verfeinert wurde. Heutzutage gelten die irischen Gastropubs als das Herzstück der modernen Esskultur.
Beeinflusst durch englische und kontinentale Trends setzten die Inselbewohner vermehrt auf Tee, Kaffee, Kakao sowie Wein und Spirituosen. Die wachsende Beliebtheit dieser Getränke veränderte die Tischkultur tiefgreifend – Tee wurde zum Nationalgetränk und noch heute gilt Irland als eine der weltweit führenden Teetrinkernationen.
Industrialisierung und Export – Irlands neue Rolle
Mit der Ausweitung der irischen Milchwirtschaft erlebte die Butter einen neuen Höhepunkt. Irische Butter wurde, insbesondere aus Cork und Kerry, zu einem international begehrten Exportgut. Heutzutage zählt Kerrygold weltweit zu den bekanntesten und beliebtesten Buttermarken. Parallel dazu florierten Brauereien und Destillerien: Guinness und Jameson wurden zu globalen Marken, deren Erfolg auch das kulinarische Selbstbewusstsein der Iren prägte.
Die Industrialisierung brachte zudem Konserven, verarbeitete Lebensmittel und standardisierte Backwaren in den Handel. In vielen ländlichen Haushalten hielt man jedoch weiterhin an traditionellen Methoden und Rezepten fest: Sodabrot, Kartoffelfladen und Eintöpfe wie Irish Stew blieben allgegenwärtig.
Die kulinarische Renaissance des 20. und 21. Jahrhunderts
In den 1980er Jahren setzte landesweit eine bewusste Rückbesinnung auf regionale Produkte und traditionelle Techniken ein. Die Bewegung „Slow Food Ireland“ sowie Pionier:innen wie Myrtle Allen im Ballymaloe House begründeten eine neue irische Küche, die alte Zutaten in zeitgemäßen Interpretationen nutzte: Lamm aus Connemara, Muscheln aus Donegal, handwerklich hergestellter Blauschimmelkäse aus Cork.
Diese „New Irish Cuisine“ kombiniert Bodenständigkeit mit Raffinesse. Fermentierte Butter, Haferfladen, Räucherlachs und Craft Beer aus kleinen Brauereien wurden als wertvolles kulinarisches Erbe neu entdeckt und mit internationalen Einflüssen angereichert.
Heute ist die irische Küche geprägt von dieser spannenden Verbindung aus Tradition und Moderne: Farm-to-Table-Konzepte, Gastropubs, Food Festivals und biologische Landwirtschaft haben die Insel zu einer kulinarischen Destination gemacht, die weit mehr zu bieten hat als das Klischee von Guinness und Irish Stew.
Irische Küche – Die Seele einer ganzen Nation auf dem Teller
Irlands Küche ist bodenständig, einfach und doch tief verwurzelt in einer Geschichte, die weiter zurückreicht als in vielen anderen Ländern Europas. Von der Fulacht Fiadh der Steinzeit über die Milchwirtschaft der Kelten, die klösterlichen Gärten und Bienenstöcke bis hin zum prägenden Einfluss der Kartoffel – überall spiegelt sich das Zusammenspiel von Natur, Notwendigkeit und Tradition wider. Selbst in den dunkelsten Zeiten während der Großen Hungersnot bewahrte die irische Küche ihren Kern: Bescheidenheit, Regionalität, das Wissen um das Wesentliche.
Heute zeigt sich Irlands Küche selbstbewusst und zeitgemäß – mit einer Rückbesinnung auf alte Zutaten, regionales Handwerk und einfache Zubereitung. Haute Cuisine sucht man auf der Grünen Insel vergeblich, stattdessen stecken in jedem Gericht uralte Geschichten, Erinnerungen und fast schon eine ganze Welt. In den Haushalten, Restaurants und Gastropubs von heute wird das Traditionelle modern interpretiert und bleibt doch unverkennbar irisch. Wer Irland nicht nur sehen, sondern wirklich erleben will, sollte auch seine kulinarische Geschichte kosten – ehrlich, unverfälscht und voller Charakter.
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