Irland in der Neuzeit

Das Licht bewahren: Erinnerungen des letzten Leuchtturmwärters in Irland

Written by Nadja Uebach

Kurve um Kurve führt mich die schmale Straße in Richtung Atlantik. Die Sonne taucht die Felder in ein geheimnisvolles, goldenes Licht, wie es nur die Morgensonne im frühen Winter vermag. Nach einem Sturm in der vergangenen Nacht glänzt die Erde und das Meer ist noch immer wütend, als nach einer weiteren Kurve die Silhouette des Galley Head Leuchtturms am Ende einer imposanten Landzunge auftaucht. Für viele ist der Leuchtturm eine Art Wahrzeichen, ein Ort unverkennbarer Schönheit. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Sicherheit. Für mich ist es ein Ort des inneren Friedens und der Verbundenheit mit der Natur – doch heute treffe ich einen Mann, für den der Leuchtturm ein Zuhause ist.

Gerald Butler: Irlands letzter Leuchtturmwärter

Gerald Butler war einer der letzten hauptberuflichen Leuchtturmwärter Irlands. Als Sohn und Enkel von Leuchtturmwärtern (auf mütterlicher und väterlicher Seite) hat Gerald das Leben in und um die Leuchttürme im Blut. Seit er und sein Zwillingsbruder Edmund als zweites und drittes von insgesamt 15 Kindern das Licht der Welt erblickten, folgte die Familie seinem Vater zu sämtlichen Leuchttürmen Irlands. Gerald verbrachte seine Kindheit damit, Klippenlandschaften zu erkunden, Ausflüge zu Leuchttürmen mitten im Atlantik zu unternehmen und den wahrgewordenen Traum einer abenteuerlichen Kindheit zu leben. Nebenbei lernte er, wie man ein Leuchtfeuer bediente, das zur damaligen Zeit unabdingbar für den Schiffsverkehr war.

Für Gerald stand schon früh fest, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten und ebenfalls Leuchtturmwärter werden würde. Damals ahnte er jedoch nicht, dass er zu der letzten Generation gehören würde, die diesen Alltag noch erleben darf. Denn nach 21 Dienstjahren war es für Gerald an der Zeit, seine Uniform zum letzten Mal in den Schrank zu hängen und Platz für die Automatisierung zu machen, die heutzutage alle Leuchttürme der Grünen Insel steuert. Er arbeitet allerdings noch immer als betreuender Wärter für den Galley Head Leuchtturm in Rathbarry in der Grafschaft Cork, wo ich ihn kennenlernen und mehr über seine faszinierende Lebensgeschichte erfahren durfte.

Galley Head Leuchtturm: Ein Ort wie kein anderer

 

© Kieran Hayes

Die kleine Landzunge Dundeady, wo der Galley Head Leuchtturm bereits seit über 145 Jahren die schroffen Felsen überblickt, die sich wie knorrige Finger in den tosenden Ozean erstrecken, ist einer der Orte, denen mein Herz gehört, seitdem ich ihn das erste Mal am Ende dieser kurvenreichen Straße erblickte. Als Gerald Butler an diesem goldenen Novembermorgen die beiden Tore aufschloss, die auf das Gelände des Leuchtturms führen, vergaß ich einen Augenblick lang zu atmen.

Nachdem ich den 21 Meter hohen weißen Turm mit seinem markanten roten Balkon über ein Jahrzehnt lang aus der Ferne bewundert hatte, war es beinahe überwältigend, am Fuß des Leuchtturms aus dem Auto zu steigen und daran emporzublicken. Trotz der kühlen Brise und des Tosens der Wellen unter mir, erfasste mich ein Gefühl vollkommener Ruhe – und sobald ich Geralds Blick begegnete, auch Neugier. Ich wusste natürlich, dass er eine Geschichte zu erzählen hatte, allerdings entdeckte ich ein Funkeln in seinen Augen, das einzig von einem Leben voller Abenteuer herrühren konnte.

Nachdem wir bisher nur kurz telefoniert hatten, stellten wir einander vor, bevor ich ihm meine erste Frage stellte. Diese bezog sich – zu meiner Überraschung – nicht auf den Leuchtturm, sondern auf das zweistöckige Doppelhaus gegenüber dem Turm. Ein plötzliches Bedürfnis nicht nur herauszufinden, was Gerald über den Leuchtturm erzählen konnte, sondern auch über die Leben, die dahinter stattfanden, ließ mich auf das Haus zeigen. „Das war also Ihr Zuhause?“ – „Das war mein Zuhause“, antwortete er knapp. Doch in diesen vier Worten steckte so viel Gefühl, so viel Geschichte, dass meine sorgfältig vorbereiteten Interview Fragen vergessen waren. Stattdessen ließ ich mich von Gerald auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen.

© Kieran Hayes

Life on the Rocks: Erinnerungen eines Leuchtturmwärters

Im Schatten des Leuchtturms folgen wir dem gepflasterten Pfad zu der grünen Tür des Cottages auf der Westseite. Gerald erzählt mir, dass seine Eltern zweimal auf Galley Head stationiert waren. Einmal als Gerald etwa zwei Jahre alt war und das zweite Mal in den Jahren seiner ungestümen Jugend. Zunächst arbeitete sein Vater als Hilfswärter. Damals lebte die Familie in der Haushälfte auf der Ostseite. Erst nachdem Larry Butler zum Hauptwärter ernannt wurde, zog die Familie ins Nachbarhaus, da dieses mit einem Alarm im Elternschlafzimmer ausgestattet war, der den Leuchtturmwärter bei Bedarf weckte.

Gerald führt mich durch das Haus seiner Kindheit, das in der Zwischenzeit von der Irish Landmark Trust restauriert und zum Ferienhaus umgebaut wurde, um das sich der ehemalige Leuchtturmwärter mit Leidenschaft kümmert. Vom Wohnzimmer führt eine Tür durch die dicken Außenwände in den ehemaligen Öltank, in dem sich heutzutage eine gemütliche Küche mit eindrucksvollem Blick über die zerklüftete Küstenlandschaft befindet. Gerald erklärt, dass diese Küche seiner Mutter zu verdanken ist. Sobald das Leuchtfeuer kein Öl mehr benötigte, hatte Mrs. Butler die Commissioners of Irish Lights gebeten, durch das Mauerwerk zu brechen und den ehemaligen Tankraum zur Küche umzubauen. Seine Mutter war die letzte feste Bewohnerin des Hauses, während sie nach dem Tod von Geralds Vater den Posten des betreuenden Wärters als erste und einzige weibliche Wärterin übernahm.

© Kieran Hayes

Die Geschichte der Galley und seiner Menschen

Es ist offensichtlich, dass der Leuchtturm nicht einfach nur der Ort ist, an dem Gerald aufgewachsen und seiner Berufung zum Leuchtturmwärter gefolgt ist. Es ist ein Ort, der tief in der Geschichte vieler Menschen verankert ist – eine Geschichte, die der ehemalige Leuchtturmwärter unbedingt bewahren möchte. Er erzählt mir von einem Projekt, an dem er gemeinsam mit seiner Partnerin arbeitet. Er hat bereits mit vielen ehemaligen Wärtern gesprochen, sowie mit den Nachfahren derer, die den Leuchtturm entworfen, gebaut und anderweitig an ihm gearbeitet haben. Die Aufzeichnungen dieser vielschichtigen und ganz individuellen Erinnerungen an Galley Head sollen zukünftig an den regelmäßig stattfindenden Tagen der offenen Tür im Leuchtturm ausgestellt werden.

Eine ganz persönliche Verbindung zum Leuchtturm

Während wir über dieses Projekt sprechen, entdecke ich meine ganz eigene Verbindung zu den Leuchttürmen der Grünen Insel. Der Großvater meines Mannes führte ein Elektrogeschäft und war dafür bekannt, seine eigenen Funkgeräte zu bauen, mit denen er Kontakt zu den Wärtern auf den abgelegenen Rock Stations aufnehmen konnte. Jeden Sonntag setzte er sich in seinen Laden, nahm das Funkgerät in Betrieb und las den Leuchtturmwärtern, die meist wochenlang auf den Felsen mitten im Atlantik ihren Dienst verrichteten, die Lokalzeitung vor. Gerald beschreibt, dass dies zur damaligen Zeit die einzigen Nachrichten waren, die die Leuchtturmwärter aus ihren Heimatorten erhielten. Sie alle freuten sich auf Paddy Hayes’ wöchentliche Zeitungslesung. Genau wie die unzähligen Geschichten der Menschen, die mit der Gemeinschaft der irischen Leuchtturmwärter verbunden sind, ist es auch diese Anekdote über meinen Schwiegergroßvater wert, aufgezeichnet zu werden, bevor sie für immer in Vergessenheit gerät.

Wir lassen die Küche hinter uns und folgen der Treppe ins Obergeschoss. Ursprünglich hatte das Haus drei Schlafzimmer, doch eines davon musste zugunsten eines Badezimmers weichen. Ich bewundere den Ausblick auf den Leuchtturm durch das Fenster eines großzügigen Zweibettzimmers, als Gerald mir erzählt, dass dies einst sein Kinderzimmer war. Damals hätten diese zwei Einzelbetten allerdings nicht ausgereicht. Immerhin mussten fünf oder sechs der Geschwister in dem Zimmer darin Platz finden, wobei sich stets zwei oder drei von ihnen ein schmales Bett teilten. Es war gemütlich und eng … „aber so war das damals“, lacht Gerald.

© Kieran Hayes

Das Risiko als ständiger Begleiter

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es wohl war, hier aufzuwachsen. Diese Zeit ohne Handys, Internet oder andere moderne Annehmlichkeiten scheint so lange her zu sein, und doch habe ich selbst in meiner eigenen Kindheit noch das Ende dieser Ära miterlebt. An einem Ort wie Galley Head aufzuwachsen, muss jedoch ganz anders gewesen sein. Die schiere Kraft des Atlantiks, die Felsen, das Grün der Felder als einzige Nachbarn und die überragende Präsenz des Leuchtturms als der rotierende Mittelpunkt, um den sich das gesamte Familienleben drehte.

In seinem Buch zeichnet der ehemalige Leuchtturmwärter ein sehr abenteuerliches Bild von seiner Jugend in Galley Head. Vom Angeln und Schießen bis hin zum Tauchen und Bauen eigener Bomben aus den am Leuchtturm gelagerten Stoffen, kam in der Familie Butler zu keiner Zeit Langeweile auf. Wenn ich mir das alles jetzt in meinen Gedanken ausmale, breitet sich ein Gefühl von Freiheit in mir aus. Die Freiheit, zu entdecken, zu lernen und zu wachsen und an einem der atemberaubendsten Orte Irlands genau so zu sein, wie man sein möchte.

Von Galley Head und anderen Lieblingsorten

„Galley Head war also Ihr Zuhause, aber hatten Sie einen Favoriten unter all den anderen Leuchttürmen, an denen Sie im Laufe der Jahre stationiert waren?“, frage ich Gerald und seine Augen leuchten sofort auf, als er ohne zu zögern antwortet. Er erzählt mir, dass er zwei Favoriten hat. Bei beiden handelt es sich um so genannte Rock Stations – Leuchttürme, die auf Felsen gebaut und nicht mit dem Festland verbunden sind. Seine klaren Favoriten sind die Leuchttürme auf Fastnet und Bull Rock.

Der Leuchtturm auf dem mythischen Bull Rock vor der Küste der Beara-Halbinsel war Geralds erster Posten als Hilfswärter. Seinen lebhaften Beschreibungen all der Abenteuer nach zu urteilen, die der Felsen für ihn bereithielt, war es eine wirklich besondere Zeit. Auf der Suche nach Abwechslung und dem nächsten Adrenalinkick verbrachte Gerald seine Freizeit mit Klettern, Angeln, Schwimmen und Tauchen.

Gerald und Fastnet Rock

Während er Bull Rock für seine Abenteuer liebte, faszinierte ihn der Leuchtturm auf Fastnet Rock mit seiner Unmöglichkeit. Der Turm steht auf diesem Felsen inmitten der nie endenden Naturgewalt des Atlantiks. Gerald stellt einen Vergleich zu einem Flugzeug her.

„Mehrere Tonnen Metall, die rund 300 Menschen durch die Luft befördern – es scheint unmöglich zu sein und doch geschieht es tagtäglich.“

Wenn man die Vehemenz und Größe der Wellen während eines Sturms bedenkt, sollte der Leuchtturm auf dem Fastnet Rock nicht standhalten können, und doch steht er dort bereits seit 1904. Der Turm besteht aus einem System von miteinander verbundenen Blöcken, die dafür sorgen, dass er den Wellen und dem Wind trotzt. Gerald erzählt von den vielen Stürmen, die er auf Fastnet Rock erlebt hat, als die Wellen mit solcher Wucht über die Spitze des Leuchtturms schlugen, dass er hin und her schwankte. Einmal war das Schwanken so stark, dass Gerald sich abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Cape Clear

Fastnet Rock © Fáilte Ireland

Die Tragödie der Fastnet-Regatta 1979

Die Erinnerungen an Fastnet wecken in Gerald auch die Bilder der schrecklichen Segeltragödie der Fastnet-Regatta im Jahr 1979. Während der Regatta war er als Hilfswärter auf Fastnet stationiert und beobachtete, wie sich die Wetterbedingungen verschlechterten, als immer mehr Yachten den Leuchtturm umrundeten, der als Wendepunkt fungierte. Alles, was die Wärter tun konnten, war, ihr Leuchtfeuer scheinen zu lassen sowie die Nummern der Boote zu notieren und diese Informationen an das Festland weiterzuleiten, wo die größte Rettungsaktion in Friedenszeiten im Gange war. 19 Menschen verloren während dieses Sturms ihr Leben an den Atlantik – eine düstere Erinnerung daran, wie unbarmherzig das Meer sein kann.

In Anbetracht dieser Tragödie und der allgemein sehr lebensfeindlichen Bedingungen am Fastnet Rock kann ich nicht anders, als mich zu fragen, wie sich das auf einen Menschen auswirkt. „Wie fühlt man sich, wenn der Leuchtturm schwankt und die Wellen an die Mauern um einen herum schlagen, wenn man weiß, dass jenseits dieser Mauern nichts als zerklüftete Felsen und eine wütende See liegen?“ Gerald sieht mich ganz unverblümt an und sagt mir, dass alles im Leben ein Risiko birgt.

Er erzählt von einem Vorfall in seiner Jugend, bei dem er beinahe ertrunken wäre. Als er diese schicksalhaften Augenblicke im Wasser in seinem Buch beschreibt, spricht er von einem Gefühl der Euphorie und des Friedens, das sich nach seinem letzten Atemzug einstellte. Ein Moment, der ihn für immer verändert hat – er hat keine Angst vor dem Tod. „Im Leben gibt es keine Garantien“, fügt er hinzu und ich habe das Gefühl, dass Gerald hier ist, um das Beste aus jedem einzelnen Tag zu machen.

„Im Leben gibt es keine Garantien“

Leben und Arbeiten im Leuchtturm

In seinen Memoiren und in Interviews hat Gerald sehr ausführlich über sein Leben auf den Leuchttürmen gesprochen. Es waren stets mehrere Wärter gleichzeitig stationiert, die in Schichten rund um die Uhr arbeiteten. Sie sorgten des Nachts dafür, dass das Leuchtfeuer stets brannte, und zogen den Drehmechanismus der Laterne auf, der wie ein riesiges Uhrwerk funktionierte. Tagsüber kümmerten sie sich um die Instandhaltung der gesamten Anlage, erledigten Wartungsarbeiten und den Haushalt. Zudem gehörte es zu ihren Aufgaben, alle vorbeifahrenden Schiffe und die aktuellen Wetterbedingungen aufzuzeichnen. Aufzeichnungen, die sich im Laufe der Jahre als sehr wertvoll erwiesen haben. Ein Wärter war für mehrere Wochen auf dem Leuchtturm stationiert. Sogenannte Relief Keeper (Ablösewärter) wurden jeweils für eine Woche reihum auf den Leuchttürmen stationiert, um den Wärtern etwas wohlverdiente Zeit mit ihren Familien zu verschaffen, und standen auch in Krankheitszeiten zur Verfügung.

In der dienstfreien Zeit war es jedem selbst überlassen, sich zu beschäftigen. Während die meisten Wärter handwerkliche Hobbys für sich entdeckten, fühlte sich Gerald – wie bereits in seiner Kindheit – vom Abenteuer angezogen und erkundete die raue Landschaft seiner Umgebung auf jedmögliche Weise. Während der langen Wochen im Dienst kam außerdem seine Leidenschaft für den Bau filigraner Modellsegelboote zum Vorschein. Zudem vertrieb er sich die Zeit mit Schachpartien, die er über Funk mit Wärtern anderer Leuchttürme ausfocht.

Als er in einem Interview gefragt wurde, ob er sich jemals einsam gefühlt habe, erklärte er, dass Einsamkeit für ihn etwas mit dem Wunsch zu tun habe, irgendwo anders zu sein. Wenn er jedoch in einem Leuchtturm war, war er stets genau dort, wo er sein wollte. Auf Klippen oder Felsen in einigen der schönsten Küstenregionen Irlands stationiert zu sein, an Orten zu arbeiten, die solch atemberaubende Aussichten bieten, war für Gerald kein Job – es war genau das Leben, das er führen wollte.

Atemberaubende Ausblicke © Kieran Hayes

Der Leuchtturm – ein Denkmal vergangener Tage

Wir verlassen das Haus und ich bin gedanklich in Geralds Geschichte versunken, stelle mir das Leben auf einer Rock Station vor. Die Frage, ob es ihn traurig macht, dass dieses Leben vorbei ist, das so lange alles war, was er kannte, bejaht er. Allerdings glaubt er auch, dass der Fortschritt im Allgemeinen gut ist, es ist nur schwierig, sich selbst anzupassen. „[…] als Menschen fällt es uns schwer, Veränderungen zu akzeptieren“, bemerkt er mit einem wissenden Lächeln, bevor ich ihm über den Hof zum Leuchtturm folge.

„[…] als Menschen fällt es uns schwer, Veränderungen zu akzeptieren“

Als wir den Korridor betreten, der in den unteren Teil des Leuchtturms führt, erklärt Gerald, dass der Korridor früher mit dem Wohnhaus verbunden war, damit der Wärter den Turm bei jedem Wetter betreten konnte. Heute wird nur noch der letzte Teil des Korridors als Eingang genutzt, der Rest beherbergt Mobilfunk-Sendetechnik. Gerald erinnert sich an Familienabende vor dem Fernseher, an denen er innerhalb einer Werbepause durch den Korridor flitzte und den Drehmechanismus für die Laterne aufzog, ohne etwas von der Sendung zu verpassen. Das war eine der Aufgaben, die er als Jugendlicher oft übernahm.

Als sich die Tür zum Leuchtturm öffnet, sticht mir sofort die leuchtend blaue Wendeltreppe mit dem Messinggeländer ins Auge, die sich in starkem Kontrast von der geschwungenen weißen Wand abhebt. Wir steigen die Stufen hinauf in den Lichtraum unter der Laterne, die wir über eine kurze Leiter erreichen. Obwohl mich Höhen normalerweise nervös machen, fühle ich mich sicher und ruhig, als ich neben der rotierenden Fresnel-Linse stehe und den Panoramablick auf die umliegende Küste in mich aufsauge. Der ehemalige Leuchtturmwärter erzählt mir ausführlich von der faszinierenden Geschichte des Galley Head Lighthouse, die Ihr hier nachlesen könnt.

© Kieran Hayes

Leuchtturmwärter: Mehr als ein Job

Als Gerald im Zuge der Automatisierung entlassen wurde, schaffte er es nicht, dem Atlantik den Rücken zu kehren. Kurzum investierte er in einen Trawler und lernte das Meer über mehrere Jahre hinweg aus der Perspektive eines Fischers kennen. Das war harte Arbeit, erinnert er sich, körperlich anstrengend, aber er hätte es nicht missen wollen. Doch als seine Mutter schließlich in den Ruhestand ging, war die Stelle des betreuenden Wärters der Galley frei. Begeistert erzählt mir Gerald, dass er sich sofort beworben hat und von ganzem Herzen hoffte, wieder „nach Hause gehen“ zu dürfen. Natürlich hat er den Posten bekommen und hält ihn bis heute, allerdings wird er der letzte Leuchtturmwärter in Irland sein. „Menschen werden mittlerweile nicht mehr ersetzt“, erklärt er im Trailer des Kurzfilm-Dokumentarfilms The Last Lightkeeper.

Ich frage ihn, wie oft er zum Leuchtturm kommt. „So oft ich kann“, lacht er und erzählt mir, dass er regelmäßig nach Gründen sucht, hierher zu kommen und Zeit an dem Ort zu verbringen, der nicht nur sein Zuhause ist, sondern an dem er sich auch am meisten wie er selbst fühlt. Gerald sieht mich an und wieder bemerke ich dieses Funkeln in seinen Augen, als er mir erzählt, dass er und seine Partnerin im Laternenraum der Galley saßen, als die Grüne Insel im Oktober 2017 wegen des Hurrikans Ophelia den Notstand ausrief. Mit Ehrfurcht beobachteten die beiden, wie die Wellen über die Spitze des Leuchtturms brachen, hörten, wie der Sturm auf den Turm einschlug, und wurden Zeugen der rohen Naturgewalt des Atlantiks.

Es war der schlimmste Sturm, den Gerald je in Galley Head erlebt hat. Allein bei der Vorstellung, wie die Wellen, die in diesem Moment sanft um die Felsen unter mir spülen, diese gewaltigen Kräfte entfesseln, bekomme ich Gänsehaut.

Eins mit den Elementen

Dann kommt der Moment, auf den ich mich am meisten gefreut habe: der Balkon. Die Tür geht auf und wir werden vom Wind begrüßt, der an unseren Kleidern reißt und durch unsere Haare wirbelt. Bei den Geräuschen der uns umgebenden Natur ist es schwer, ein Gespräch zu führen, also lassen wir unsere Blicke wortlos über die Umgebung schweifen. Während die Weite des Horizonts und die sich ständig verändernden Wellen ein beeindruckender Anblick sind, ist es der Blick ins Landesinnere, der mir den Atem raubt. Zum ersten Mal sehe ich die Küste, die seit so vielen Jahren mein Zuhause ist, aus einem ganz anderen Blickwinkel. Die Strände und Dünen in der Ferne, die unzähligen Grüntöne, die sich an die Hügel schmiegen und – als wolle sich die Grüne Insel von ihrer schönsten Seite zeigen – ein Regenbogen, der sich gerade am Himmel bildet.

Ich blicke zu Gerald auf und ringe um Worte. „Das ist etwas Besonderes“, rufe ich ihm zu, während ich die Aussicht bewundere, und er lächelt. Es ist ein besonderer Ort mit einer Umgebung, aus der man Kraft schöpfen und die Menschen verändern kann. Der ehemalige Leuchtturmwärter beobachtet das regelmäßig und erzählt von Familien, die in den Leuchtturmwärterhäusern übernachten und zunächst von der Tatsache abgeschreckt sind, dass es weder Internetanschluss noch einen Fernseher im Haus gibt. Wenn er ihnen jedoch vor der Abreise begegnet, stehen ihm Menschen gegenüber, deren Augen leuchten, weil sie ohne jegliche Ablenkungen Zeit miteinander verbringen konnten.

© Kieran Hayes

Das Licht bewahren: Geschichten für die Ewigkeit

In seinem Buch beschreibt Gerald den Leuchtturm als einen Ort, an dem er das Gefühl hat, die Zeit sei stehen geblieben. Der unerschütterliche Turm erhebt sich am Rand der Klippen und strahlt sein Licht unermüdlich aus. Doch zu Füßen dieser Beständigkeit tobt der Ozean mit seiner sich stets verändernden Landschaft aus Wellen und Felsen. Eine Metapher für das Leben. Wir sind von Veränderungen umgeben, und wenn wir es zulassen, werden wir davon mitgerissen. Orte wie Galley Head haben jedoch die Fähigkeit, uns zu erden, uns mit der Natur zu verbinden und uns zu dem zurückzubringen, was im Leben wirklich wichtig ist. Damit ist der Leuchtturm von Galley Head – und vermutlich viele andere – ein magischer Ort, der gut für die Seele ist und zusammen mit der Geschichte seiner Bewohner bewahrt werden muss.

Wir sind von Veränderungen umgeben, und wenn wir es zulassen, werden wir davon mitgerissen.

Es war ein Privileg, Gerald Butler an diesem Ort zu treffen, der ihm – und mir – so sehr am Herzen liegt. Es war ein unvergessliches Erlebnis, in die Fußstapfen eines Leuchtturmwärters zu treten und einen Eindruck davon zu bekommen, wie das Leben für ihn und so viele andere einst aussah. Und es war mir eine Ehre, seine Geschichten zu hören, sie aufzuschreiben und ihm dabei zu helfen, das Licht auf eine Lebensweise scheinen zu lassen, die sonst für immer verloren wäre.

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Über den Autor

Nadja Uebach

Da ich seit 2008 auf der grünen Insel lebe, bedeutet Irland für mich in erster Linie Alltag. Wenn ich nicht mit meinem Laptop bewaffnet in einem Café oder Zuhause sitze und schreibe, findet man mich höchstwahrscheinlich mit meinen drei Kindern am Strand. Die Natur, die Kultur und insbesondere die Menschen sorgen dafür, dass sich in unseren Alltag immer wieder ein bisschen Magie einschleicht. Diese besondere irische Alltagsmagie versuche ich in meinen Texten in Worte zu fassen.

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