Irische Mythologie

Der Schatz der Meerjungfrau – eine irische Legende

Written by Monika Dockter

Meerjungfrauen, Wasserfrauen, Nixen – derlei Fabelwesen existieren in vielen Kulturen. In der irischen Überlieferung spricht man zusätzlich auch von Meermännern. Beide Geschlechter nennt man hier Merrows oder Moruadh. Und noch eines haben beide gemeinsam: ihre rote Mütze oder ihren roten Umhang. Diesen Gegenstand brauchen sie für ihr Leben unter Wasser. An Land dagegen ziehen sie ihn aus.  Wie man sich vorstellen kann, ranken sich alle möglichen Geschichten um diese Wesen und ihr geheimnisvolles Leben unter Wasser. Eine davon, die irische Legende um den Schatz der Meerjungfrau, erzähle ich Euch hier.

Eine Begegnung am Strand

Eines Tages wanderte der junge Donal müßig am Strand entlang. Die Sonne schien und glitzerte auf der Wasseroberfläche, die heute ungewöhnlich ruhig und glatt erschien. Plötzlich aber  sah Donal auch in den Felsen hoch über dem Wasser etwas glitzern. Was konnte das sein? Neugierig kletterte er über die glitschigen Steine nach oben.  Einmal rutschte er ab und stieß sich sein Knie an einer scharfen Kante, doch die Mühe hatte sich gelohnt. Oben angekommen saß da ein Wesen vor ihm, so strahlend schön, wie er noch nie eines gesehen hatte: Eine junge Frau mit wallendem, goldenem Haar.

Neben ihr auf dem Felsen lag eine rote Mütze, und das, was Donal schon aus der Ferne hatte glitzern sehen, waren die im Sonnenschein strahlenden Schuppen ihres Fischschwanzes.

Donal mochte kaum seinen Augen trauen. Gehört hatte er freilich schon von Meerjungfrauen, doch dass eine solche Schönheit hier wahrhaftig vor ihm saß, war  ein ganz und gar unerwartetes Glück! Höflich grüßte er die schöne Frau und fragte sie nach ihrem Wohlergehen.

Ein Besuch bei der Meerjungfrau

Die Meerjungfrau antwortete ihm nicht weniger freundlich. Nachdem sie sich auf diese Weise gebührend miteinander bekannt gemacht hatten, lud Donal die  junge Frau zu sich nach Hause zu einem Essen.  Bereitwillig nahm sie ihre rote Mütze in die Hand und folgte Donal in sein bescheidenes Heim.

Er tischte die größten Köstlichkeiten auf, die er in seinen Schränken finden konnte. Fisch und Gemüse und Tee und  süßen Früchtekuchen…

In der Tat schien es der Meerjungfrau zu schmecken. Und während sie sich an seinem Essen gütlich tat, berichtete sie Donal von ihrem eigenen Heim tief unten im Meer. Sie erzählte von grünen Wiesen aus Seegras, das sachte im Winde wogte. Von Straßen, die mit Muscheln und schimmernden Perlen gepflastert waren und Häusern, deren Dach ebenfalls aus Muscheln gemacht war. Donal kam aus dem Staunen kaum heraus.

Wie gerne sähe er all das einmal mit eigenen Augen! Und als hätte die Meerjungfrau seinen heimlichen Wunsch erraten, lud sie ihn zu  einem Gegenbesuch in ihrem Hause ein.

Schon am folgenden Tag trafen sich die beiden jungen Leute erneut am Strand. In ihrer Hand trug die Meerjungfrau eine rote Mütze für Donal. Er setzte sie auf seinen Kopf und folgte ihr ohne zu zögern ins Wasser. Tiefer und immer tiefer zog die Meerjungfrau ihn hinab, und endlich erreichten sie den Meeresgrund.

Irische Meerjungfrau

© AndyFaeth, Pixabay.de

Der Schatz der Meerjungfrau

Hier fand Donal alles ganz genau so vor, wie die Meerjungfrau, die er längst aus tiefstem Herzen verehrte, berichtet hatte. Sie schritten eine lange, gewundene Gasse hinauf bis zu ihrem kleinen Haus mit dem Dach aus Muscheln und Perlen. Aber der äußere Glanz des Hauses verblasste, sobald Donal sein Inneres betrat.

Denn in all seinen Räumen begrüßte ihn ein Glitzern, Strahlen und Funkeln von unvergleichlicher Schönheit. Kisten voller Gold, Silber und Edelsteinen erfüllten die Zimmer.

„Woher hast du all diese Schätze, meine liebe Moruadh?“, erkundigte er sich mit angehaltenem Atem.

„Oh, ich fand sie in den versunkenen Schiffen! Dort hat niemand mehr Verwendung dafür, und in meinem Heim sehen sie so hübsch aus, nicht wahr?“ Mit ihren großen, wasserblauen Augen blickte Moruadh Donal an und er konnte ihr nur zustimmen. Nie in seinem Leben hatte er Hübscheres gesehen als diese junge Frau und ihre Schätze.  Bei Tisch konnte er kaum etwas essen, und auch, nachdem die Meerjungfrau ihn sicher wieder zur Küste gebracht hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken.

Tag für Tag für Tag spazierte er den Strand entlang in der Hoffnung, die Geliebte wieder zu sehen. Und sein leises Flehen wurde erhört. Eines Tages saß sie wieder auf dem Felsen, und ihr langes, goldenes Haar begrüßte Donal schon von Weitem!

Die Hochzeit

Diesmal wusste Donal genau, was zu tun war. „Willst du meine geliebte Frau werden?“, fragte er umgehend. „Das würde ich wohl!  Ich fürchte jedoch, ich würde mein Zuhause auf dem Meeresgrund und all meine hübschen Sachen vermissen!“, antwortete sie mit sanfter Stimme.

„Aber das ist doch gar nicht nötig“, antwortete Donal. „Bring die hübschen Sachen aus deinem Zuhause einfach mit zu  mir! Ich habe Platz genug. Und dann wird unser gemeinsames Heim ein ebenso hübscher Ort!“

So willigte die geliebte Meerjungfrau schließlich ein. Sie brachte all ihre Schätze mit und die beiden feierten eine großartige Hochzeit. Donal und seine Frau waren sehr glücklich miteinander.

Für eine kurze Zeit. Denn schon bald sehnte sich Moruadh zurück nach ihren Freunden und dem Leben in der kleinen Stadt auf dem Meeresgrund. Als Donal das bemerkte, versteckte er ihre rote Mütze. Ohne die konnte seine Gattin ihn nicht verlassen, um zu ihren Freunden zurückzukehren, das wusste er genau. Damit war die Mütze auch die Garantie dafür, dass er seine Schätze behalten konnte!

Indessen klagte und jammerte Moruadh unermüdlich: „Ich habe solches Heimweh, lieber Donal! Ich weiß genau, wenn ich nicht bald nach Hause auf den Meeresgrund zurückkehre, werde ich sterben!“

Trounce, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons

Ein unglückliches Ende

Nun machte Donal sich die größten Sorgen. Er verbarg die rote Mütze an dem sichersten Ort, den er kannte, und trug auch alle  Schatzkisten in ein einziges Zimmer. Dieses verschloss er mit einem starken, riesigen Schloss, dessen Schlüssel er stets mit sich trug. „Niemand wird mir diese Schätze rauben!“, schwor er sich selbst.

Eines Nachts aber, als ihr Gatte tief und fest schlief, stahl sich Moruadh leise aus dem Haus. Diesmal nämlich hatte sie gesehen, wo Donal ihre Mütze versteckt hatte.

Am nächsten Morgen, als Donal seine Augen aufschlug, fand er sich ganz alleine in seinem Bett. Moruadh war verschwunden.  Er wusste ohne jeden Zweifel, dass er seine schöne junge Frau niemals in seinem ganzen Leben wiedersehen wurde.

„Nun“, so sprach er zu sich, als er sah, dass die Tür zu seiner Schatzkammer noch immer gut verschlossen war, „wenigstens habe ich noch meinen Schatz. Mit diesen Reichtümern werde ich ohne jeden Zweifel ein sorgenfreies, angenehmes und äußerst bequemes Leben führen!“

Er öffnete die Tür, um sich am Anblick der funkelnden Goldstücke und Diamanten zu erfreuen – doch der Raum war vollkommen leer. Gemeinsam mit der Meerjungfrau waren auch all ihre Schätze verschwunden.

Und dies war das Letzte, was Donal jemals von den geheimnisvollen Wesen aus dem Meer zu sehen bekommen hatte. In Armut und großem Kummer verbrachte er den Rest seiner Tage…

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Über den Autor

Monika Dockter

Als Schriftstellerin bedeutet Irland für mich Inspiration in ihrer schönsten Form. Ich finde diese Inspiration in den Worten begnadeter irischer „Storyteller“, zwischen den verschlungenen Wurzeln einer uralten Eiche und auf der Brücke über einen Bach, dessen Wasser vom Torf so braun ist wie der Ginster am Ufer gelb…
Für die gruene-Insel.de zu schreiben betrachte ich als einmalige Gelegenheit, etwas von der für mich so faszinierenden Atmosphäre dieses Landes weiterzugeben – und zwar an eingefleischte Irlandfans ebenso wie an solche, die genau das einmal werden wollen.

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