Wir sind spät dran. Dabei hätten wir es besser wissen müssen. Die kurvenreichen, engen Straßen in Mayo und die mancherorts zahlreichen Schlaglöcher lassen es schlicht nicht zu, dass man mit mehr als moderater Geschwindigkeit vorankommt. Bei der nächsten Bodenwelle schicke ich geistig ein dickes Dankeschön an unseren Mietwagenvermieter, der uns mit einem recht hohen Wagen ausgestattet hat. Die Straße wird schmaler, von links und rechts ragt sonnengelbes Ginstergebüsch auf die Straße. Ein heller Farbtupfer an diesem in Grau getauchten, verregneten Maitag. In der Ferne kann man die Wellen des Meeres schon rauschen hören. Nach ein paar mehr engen Kurven eröffnet sich unvermittelt ein atemberaubender Blick auf die vor uns liegenden Bucht und wir sind da. Sofia und ich tauschen begeisterte Blicke. Wir sind angekommen im The Lost Valley Irland am Silver Strand.
Inhaltsverzeichnis
Zuhause, wo Irland endet
Kaum haben wir die Autotüren geöffnet, werden wir von zwei jungen, blökenden Lämmern begrüßt, die aufgeregt um uns herumspringen. Hintendrein trottet gemächlich ein schon etwas in die Jahre gekommener Hütehund. Er beobachtet das wilde Treiben der Lämmer mit stoischer Gelassenheit und der Ruhe des Alters. Erst jetzt fällt uns der ältere Herr auf, der mit einem breiten Lächeln im Gesicht und ausgestreckter Hand auf uns zukommt, um uns zu begrüßen. Es ist Gerard Bourke: “Hi girls, nice to meet you, so great to have you here”. Er führt uns zu der kleinen Gruppe der anderen Besucher, die mit uns eintauchen wollen in die Geschichte des vergessenen Tals – in seine Geschichte, denn die Familie Bourke lebt am Rande Irlands schon in der 9. Generation.
The Lost Valley – schöne Einsamkeit
Es ist eine Geschichte, die durch Entbehrungen und Leid geprägt ist. Eine Geschichte, die aufs Engste mit dem Land verwoben ist, auf dem wir gerade stehen. Und dieses Fleckchen Erde ist atemberaubend schön. Vor uns eröffnet sich der Blick auf eine einsame Bucht mit beinahe weißem Sand. Das Meer hat ein tiefdunkles Blau angenommen und bildet mit dem dunklen, saftigen Grün der uns umgebenden Hügel ein harmonisches, ruhendes Bild. In unserem Rücken ragen Berge auf, deren Gipfel im Nebel verschwinden und etwas Erhabenes und Mystisches ausstrahlen. Vereinzelt können wir weidende Schafe erspähen – kleine weiße Punkte in den grünen Weiten.
Unser Weg führt uns vorbei an fahlen, grauen, von Wind und Wetter gebeugt Weißdornbäumen. In einer wettergeschützten Senke machen wir an den Ruinen einiger Häuser halt. Ruinen ist fast schon zu viel gesagt, denn die groben Steine sind mit Moos überwuchert und es lässt sich nurmehr der Verlauf der Grundmauern erahnen. “Vor der großen Hungersnot lebten hier und in der Umgebung mehrere Tausend Menschen”, erzählt uns Gerard in seiner angenehmen, ruhigen Bassstimme. Ein karges Leben, hier am Rande Irlands. Die wenigen Felder, die es gab, mussten der Wildnis mühsam abgetrotzt werden. Häufig fanden sich kopfgroße Steine im Grund, die die Menschen mit den bloßen Händen beiseiteschafften, um ein paar Kartoffelknollen setzen zu können.
Spuren der irischen Hungersnot
Während der großen Hungersnot waren die Menschen in Mayo besonders betroffen. Rund 1 Million Menschen starben vergessen hier am Rande Irlands. Die meisten hausten in Erdhütten, deren Eingang nur notdürftig mit Fetzen verhangen waren. Wer etwas mehr Glück hatte, hatte eine Hütte aus Stein. Viele der Behausungen wurden von Handlangern der englischen Landlords zerstört, um die Menschen zu vertreiben. Hintergrund war, dass die Regierung in London eine hohe Steuer von allen Landlords in Irland kassierte. Diese richtete sich nach der Anzahl der Bauern auf ihrem Grund. So wollten viele ihre Bauern loswerden, bezahlten ihnen gar die Passage nach Amerika auf den sogenannten Coffin Ships, die unweit von Westport ausliefen. Viele der Menschen setzten ihren Fuß niemals auf US-amerikanischen Boden, da sie während der Überfahrt völlig entkräftet verstarben.
Gerard liest einen Augenzeugenbericht aus jener Zeit der größten Not vor. Zustände, die man sich heute nur schwer vorstellen kann. Gedankenverloren und schweigsam folgt ihm unsere kleine Gruppe vorbei an sogenannten “Lazy Beds”. Aus dieser Bezeichnung spricht der blanke Hohn, denn mit einem “Faulenzbett” haben die langen Zeilen der Kartoffeläcker nichts gemein. Wie uns Gerard erklärt, stammt der Begriff noch aus einer Zeit, als in England das Bild der “faulen Iren” propagiert wurde.
Nur grüne Weite und Schafe
Der Weg führt uns weiter immer in Sichtweite der Bucht entlang hinauf auf eine Anhöhe. Von dort bietet sich ein weiter Blick auf das berühmte Killary Fjord. Diesen Ausblick lassen wir eine ganze Weile auf uns wirken. Der Wind ist frisch, aber der Regen hat aufgehört und ab und zu trauen sich sogar einzelne Sonnenstrahlen hinter der dichten Wolkendecke hervor. Von hier geht es wieder in Richtung Silver Strand und unterwegs treffen wir immer häufiger auf Schafe, die frei weiden. Gerard zeigt uns eine kleine Demonstration des Könnens seines Schäferhundes. Auf einen Pfiff hin saust dieser wie ein Blitz auf einen Hügel hinauf, hält auf einen weiteren Pfiff hin abrupt inne, um dann auf ein weiteres Signal, seinen Lauf fortzusetzen. Er treibt die versprengten Schafe zu einer kompakten Truppe zusammen und den Hang hinab. Diese blöken, wenig erfreut über die Störung während ihres genüsslichen Grasens.
Bei einem kleinen mit Reet gedeckten Cottage machen wir Halt. Das, erklärt Gerard, war das Haus seines Großvaters. Wir sehen uns in dem kargen Heim um. Auf der einen Seite gibt es eine Feuer- und Kochstelle. Daneben in einer in die Mauer gebauten Nische steht ein Bett. Der Boden besteht nur aus festgetretener Erde, die mit ein wenig Stroh bedeckt ist. Kaum vorstellbar, dass das zu früheren Zeiten ein fast wohlhabendes Zuhause gewesen sein mag.
Über sandigen Boden geht es zum Ausgangspunkt unserer Wanderung. Wir kommen an ein Gatter und stehen vor unseren Autos. Gedanklich tauchen wir erst langsam aus der Vergangenheit wieder auf.
Das ist die offizielle Website von The Lost Valley Irland, wo Ihr Touren mit Gerard Bourke buchen könnt.
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