Die salzige Meeresluft sticht kühl auf der Haut, während eine stete Brise unaufhörlich vom Atlantik ins Land braust. Sie duftet nach Salz, Freiheit und uralten Geschichten. Der Blick fällt auf die tosenden Wellen, die gegen die steilen Klippen schlagen, und für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Das donnernde Geräusch der Brandung verschmilzt mit dem Kreischen der Möwen, die in der schneidenden Kälte über den steilen Abgrund segeln. Und genau hier zwischen der gewaltigen Schönheit der Natur und den stillen Momenten der eigenen Seele scheinen Geschichten zu existieren, die so alt sind wie der Ozean selbst. Sie erzählen von Meerjungfrauen in Irland, von Wesen, die halb Mensch, halb Meer und ein fester Bestandteil der irischen Mythologie sind.
Was es mit diesen irischen Wesen aus dem Meer auf sich hat und wo man sich ihre Geschichten erzählt, verraten wir Euch jetzt.
Inhaltsverzeichnis
Ursprung der Legenden – Meerjungfrauen in Irland
Der Glaube an Meereswesen ist tief im keltischen Weltbild verwurzelt. Das Meer galt nicht nur als Lebensquelle, sondern auch als Grenzort zwischen den Welten. Hinter den salzigen Wellen verbarg sich schon immer eine Art Magie, eine Anderswelt, welche die Inselbewohner gleichermaßen faszinierte und ängstigte. Dabei ist die Rede nicht nur von Seegöttern und sagenumwobenen Inseln, sondern allen voran von Meereswesen, die hauptsächlich in zwei Formen auftreten.
Maighdean Mhara, Merrow & Meerjungfrau
Der irische Ausdruck Maighdean Mhara bedeutet wörtlich übersetzt Jungfrau des Meeres. Damit sind die klassischen Meerjungfrauen gemeint: mit einer Stimme wie der Wind, dem Körper einer Frau und langem Haar bis zur Taille. Anstatt von Beinen besteht die untere Körperhälfte aus einem schillernden Fischschwanz. Sie erscheinen oft als melancholische Gestalten, verloren zwischen den Welten.
Das Wort Merrow ist eine anglisierte Slang-Bezeichnung des irischen Wortes für Meerjungfrau und wird von den Iren gerne verwendet. Ursprünglich waren damit ebenfalls nur weibliche Seewesen gemeint, doch in späteren Überlieferungen verwendete man den Begriff auch für Seemänner. Während männliche Merrow eher als unheimlich und unansehnlich gelten, sind die weiblichen Gegenstücke oft unnatürlich schön. Typisch ist ihre rote Kappe (cohuleen druith), die es ihnen ermöglicht, in den Tiefen des Meeres zu leben. Wird sie gestohlen, sind sie an Land gefangen.
Selkies
Im Norden Irlands – besonders in Donegal – sind es Selkies, die das Meer bewohnen. Robben, die ihre Haut ablegen und als Mensch erscheinen können. Wird ihre Haut gefunden und versteckt, verlieren sie ihre Freiheit. Obwohl die zum Menschen gewordenen Selkies dann in unserer Welt existieren, werden sie bis in alle Ewigkeit vom Ozean gerufen.
Selkies und Meerjungfrauen in Irland – Überlieferte Legenden
Clíodhna – Die Meerjungfrau von Owenahincha
Der abgelegene Owenahincha Beach im Westen der Grafschaft Cork ist nicht nur für seine ruhige Lage und beeindruckende Natur bekannt, sondern auch für die düstere Legende um die Meerjungfrau Clíodhna, die in einem Felsen vor der Küste leben soll. Einer alten Erzählung zufolge verführte sie den jungen Sean Donovan mit ihrem Gesang und hielt ihn in ihrer Felsenhütte gefangen, bis eine Hexentochter sie mit einer Drohung zur Freilassung zwang. Obwohl Sean zurückkehrte, starb er kurz darauf, was viele auf Clíodhnas Fluch zurückführen.
Doch Clíodhna gilt nicht nur als unheilvolle Banshee – in anderen Legenden wird sie als schützende Feenkönigin beschrieben, die Irland vor drohenden Gefahren bewahrt, indem sie gewaltige Wellen aussendet, um Angreifer abzuwehren.
Meerjungfrauen in Irland: Die Lady von Gollerus
Dick Fitzgerald, ein Fischer in der Bucht von Smerwick auf der Dingle Halbinsel, entdeckte eines Morgens eine wunderschöne Frau am Strand. Sie hatte grünliches Haar, eine silbrig glänzenden Haut und auf ihrem Kopf trug sie eine kleine rote Kappe. Er kannte die Geschichten – und er wusste, dass es sich dabei um eine Merrow handeln musste. Kurzum klaute er ihr die Kappe, ohne die sie nicht in die Tiefen des Ozeans zurückkehren konnte. Er bat sie zu bleiben, versprach ihr seine Liebe und Sicherheit. Sie willigte ein.
Jahre vergingen. Das Paar bekam sogar Kinder und allen Anschein nach war die Merrow eine glückliche Ehefrau. Doch ihr Blick verlor sich oft am Horizont, wo Himmel und Meer sich trafen. Als sie eines Tages auf dem Dachboden eine alte Truhe öffnete, fand sie darin ihre rote Kappe. Ohne zu zögern, küsste sie ihre Kinder ein letztes Mal, zog sich die Kappe auf, trat in die Brandung und verschwand in den Fluten. Viele behaupten, dass ihre Lieder bis heute manchmal durch die Bucht hallen.
Anmerkung: Gollerus bezeichnet übrigens das Townland Gallarus auf der Dingle Halbinsel, das Schauplatz zahlreicher lokaler Legenden ist.
Die Selkie von Thady Rua
Die Legende von Thady Rua O’Dowd, beginnt mit der Suche nach einer geeigneten Ehefrau, nachdem er zum Anführer seines Clans erwählt worden war. Am Strand von Enniscrone begegnete er einer geheimnisvollen Gestalt. Dort saß eine wunderschöne Frau mit fließendem Haar schweigend am Ufer– neben sich ein seltsames, glänzendes Gewand. Thady erkannte, was sie war: eine Selkie, ein Wesen aus alten Geschichten, das zwischen der Welt der Menschen und der Robben wechseln kann. Kurzerhand nahm er ihr Robbengewand an sich und verstaute es an einem geheimen Ort. Ohne das Gewand gelang es der Selkie-Frau nicht, ihre Robbengestalt anzunehmen und ins Meer zurückzukehren. Thady nahm sie zur Frau. Mehrere Jahre lebten sie Seite an Seite und gründeten eine Familie. Doch die Sehnsucht nach den salzigen Wogen war stets in den Augen der Frau erkennbar.
Jahre später beobachtete Thadys jüngster Sohn, wie sein Vater heimlich das alte Gewand überprüfte, und erzählte seiner Mutter, wo es versteckt war. Als sie es endlich wieder in den Händen hielt, gab es kein Zögern. Noch am selben Tag verließ sie Haus und Kinder, lief hinunter zur Küste und schlüpfte lautlos in ihre Haut. Ohne ein Wort verschwand sie in den Wellen – zurück in die Tiefe, aus der sie einst gekommen war.
Lí Ban – Die heilige Merrow von Lough Neagh
Eine der faszinierendsten irischen Legenden der Merrow entführt uns ins 6. Jahrhundert zu Lí Ban, Tochter des Königs Eochaidh von Ulster. Als eine gewaltige Flut das Land der Königsfamilie überschwemmte und den heutigen Lough Neagh kreierte, gab es nur zwei Überlebende. Lí Ban und ihr Hund hatten in einer unterirdischen Kammer im See Schutz gesucht. In ihrer Einsamkeit bat das Mädchen die Göttin Danu, sie in einen Fisch zu verwandeln, sodass sie den See erkunden konnte. Danu erfüllte ihren Wunsch jedoch nur teilweise: Lí Ban wurde zu einer Merrow, halb Frau, halb Lachs. Ihr Hund war fortan als Otter an ihrer Seite und gemeinsam durchstreiften sie 300 Jahre lang die Gewässer Irlands.
Im Jahr 558 wurde Lí Ban von Beoan, einem Fischer und Mönch des Heiligen Comgall, in einem Netz gefangen. Sie wurde getauft und erhielt den Namen Muirgen, was „vom Meer geboren“ bedeutet. Mit ihrem neuen Namen kam das Mädchen an Land und starb kurz darauf. Nach ihrem Tod sprach Comgall sie heilig. Heute ist sie als Irlands heilige Meerjungfrau bekannt, die am 27. Januar gefeiert wird. Lí Bans Geschichte verbindet keltische Mythologie mit christlicher Heiligkeit und ist ein faszinierendes Beispiel für Irlands reiche spirituelle Traditionen.
Die Meerjungfrau von Inishtrahull
Vor langer Zeit, als die kleine Insel Inishtrahull vor der Küste Donegals noch bewohnt war, fand der junge Krabbenfischer Flann eines stürmischen Tages eine wunderschöne Meerjungfrau. Sie saß auf einem Felsen und kämmte ihr langes Haar. Von ihrem Anblick wie verzaubert, warf er instinktiv seinen Krabbenbeutel über ihren Kopf. In ihrem Kampf, sich zu befreien, löste sich ihr Fischschwanz, unter dem menschliche Beine zum Vorschein kamen, die sie jedoch nicht zu bewegen wusste. Flann trug sie zu seinem Haus, versteckte ihren Schwanz auf der Ostseite der Insel und kleidete sie mit alten Sachen seiner Mutter ein. Er nannte sie Brighid. Obwohl sie weder sprechen noch Sprache verstehen konnte, verliebten sie sich ineinander. Den Inselbewohnern erzählte Flann, sie sei eine Schiffbrüchige. Mehrere Jahre lebten sie zusammen auf dem Eiland und hatten zwei Kinder: Conn und Una.
Eines Tages fand Conn beim Spielen in einer Höhle den versteckten Meerjungfrauenschwanz. Als Brighid ihn erblickte, riss sie ihn an sich und rannte zum Meer. Auf einem hohen Felsen vereinte sie ihren Körper wieder mit ihrem Schwanz und sprang – unter den Augen ihrer Familie – ins Wasser. Ihre Kinder folgten ihr ins Meer und ertranken. Als Flann später von diesem Unglück erfuhr, stürzte er sich in tiefer Trauer von den Klippen in den Tod.
73 Jahre später wurde eine alte Meerjungfrau tot außerhalb eines lange verfallenen Hauses weit entfernt vom Ufer gefunden. Die Meerjungfrau war offenbar in ihren letzten Momenten über das Land gerobbt, um heimzukehren. Die Inselbewohner beerdigten die Meerjungfrau, die sie für Brighid hielten, auf der Insel und markierten ihr Grab mit einem großen Stein, der die Form eines Schlangenkopfes hat und bis heute auf der Insel zu sehen ist.
Meerjungfrauen in Irland – Geschichten, die das Meer bewahrt
Legenden von Meerjungfrauen in Irland sind mehr als alte Märchen – sie sind Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit dem Meer, der Natur und der Magie der Anderswelt. Jede Region hat ihre eigene Stimme, ihre eigenen Wellen, ihre eigenen Geschichten. Und wer hinhört, kann sie auch heute noch in der Brandung flüstern hören.
Kommentar hinterlassen